Die USA erleben seit Jahren eine „Tragödie“, wie es Präsident Joe Biden formuliert. Das Opioid Fentanyl macht aus Menschen Zombie-ähnliche Gestalten. Inzwischen kommen immer größere Mengen der Droge auch nach Europa. Deutsche Behörden sehen sich gerüstet.
Sieht man die traurigen und verwahrlosten Gestalten, wähnt man sich in einem Zombie-Film. Nur dass sie real sind: Menschen zwischen Leben und Tod, abhängig von Fentanyl, einer Droge, die mindestens fünfzigmal so stark ist wie Heroin und die die Gefahr sofortiger Abhängigkeit hochschnellen lässt. Zumal sie auch noch billiger ist. Auf den Straßen von Portland im US-Bundesstaat Oregon, der amerikanischen Fentanyl-Hochburg, kostet eine Pille des Opioids nach Erkenntnissen der Polizei maximal drei Dollar, während Süchtige für einen ungefähr vergleichbaren Rausch mittels Meth 15 oder Heroin 20 bis 30 Dollar ausgeben müsste.
Suchtexperten schlagen Alarm Fentanyl breitet sich in Deutschland aus
Die Statistik offenbart die Dramatik: 2022 starben 107.000 Amerikaner an einer Überdosis Drogen, wobei bei zwei Dritteln Fentanyl oder ähnliche Substanzen die entscheidende Rolle spielten. Mit dem 2022 in den USA beschlagnahmten Fentanyl – 50,6 Millionen Tabletten und mehr als 4530 Kilogramm Pulver – hätten theoretisch alle Einwohner der USA getötet werden können, rechnete die Anti-Drogen-Polizei DEA vor. US-Präsident Joe Biden spricht von einer „amerikanischen Tragödie“. Er und sein Außenminister Antony Blinken riefen zur internationalen Zusammenarbeit auf. Sie betrachten die Situation in den USA als Vorbotin für den Rest der Welt. In Deutschland ist das Signal gehört worden. Innen- und Gesundheitsbehörden sind in Habachtstellung. Sie beschreiben die Problematik bewusst sachlich-nüchtern, wohl auch mit dem Ziel, keine Angst zu schüren. „Der Fentanylkonsum ist in Deutschland nicht annähernd so verbreitet wie in den USA und Kanada“, sagte Bundesdrogeneauftragter Burkhard Blienert ntv.de. Allerdings: „Wir müssen aufmerksam sein, die Entwicklungen in Deutschland klar im Blick haben.“ Er gab sich sicher: Zu einem Ausmaß wie in Nordamerika werde es hierzulande nicht kommen. „Wir haben grundsätzlich andere, bessere Voraussetzungen.“
Verschreibung als Suchteinstieg
Verwiesen wird auf das Hilfesystem mit seinen flächendeckenden Beratungsstellen, das es in der Form in den USA nicht gibt, und die strengen Vorschriften für Ärzte bei der Verschreibung von Fentanyl. Das im Labor hergestellte Opioid ist bei regulärer Anwendung ein wichtiges Mittel in der Humanmedizin bei Not- und Intensivfällen sowie zur Linderung starker Schmerzen etwa bei Krebs im Endstadium oder anderen schweren Leiden. Allein bei Missbrauch entfaltet es seine zerstörerische Wirkung. Fentanyl ist schwer zu dosieren, was es für Konsumenten brandgefährlich macht. Bei Heroin wirken 200 Milligramm tödlich – bei Fentanyl sind es gerade mal zwei.
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In Deutschland dürfen Ärzte das Opioid nur direkt an Patienten oder Vertrauenspersonen herausgeben. In Amerika haben Mediziner hohen Anteil an der Verbreitung der Droge. „Ausgangspunkt der Fentanylkrise in den USA war eine übermäßige Verschreibung von starken Schmerzmitteln“, sagte der Drogenbeauftragte.
Lange bestritten Mediziner und Pharmaunternehmen, dass Fentanyl und ähnliche Mittel abhängig machen. Seit das klar ist, händigen sie die Medikamente vorsichtiger aus – Süchtige weichen auf den Schwarzmarkt aus. „Deutsche Ärzte sind um ein Vielfaches vorsichtiger“, erklärte Blienert. Und die Erfahrungen aus den USA dürften den Sinn für das Thema weiter geschärft haben.
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Was aber nicht bedeutet, dass die Welle an Deutschland vorbeigeht. Obwohl die bisher kriminalistisch erfassten Fälle und beschlagnahmten Mengen nicht ansatzweise die Zahlen der USA erreichen – Fentanyl und ähnliche Substanzen sind in Deutschland angekommen. Die Aidshilfe ließ in Kooperation mit dem Bundesgesundheitsministerium über sechs Monate hinweg bundesweit in 17 Drogenkonsumräumen freiwillige Schnelltests auf Fentanyl durchführen. Ergebnis: Ungefähr 50 der 1401 untersuchten Heroin-Proben enthielten das Opioid – sehr wahrscheinlich hatten sämtliche Konsumenten keine Ahnung davon.
Wieder mehr Drogentote
Neben den Opiaten Heroin und Morphium sowie zunehmend Crack könnte die nächste tödliche Droge die Lage insgesamt verschärfen. Schon seit 2017 verzeichnet Deutschland einen kontinuierlichen Anstieg der Drogentoten. 1990 Menschen erlagen 2022 – die Statistik für 2023 ist noch nicht bekannt – den Folgen ihrer Sucht, 164 mehr als ein Jahr zuvor. Nach Angaben der Aidshilfe waren unter den fast 2000 Drogentoten „nachweislich“ 83 Menschen, die synthetische Opioide wie Fentanyl konsumiert hatten.
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Maßgeblich für das Tempo der Entwicklung sind die Taliban in Afghanistan. Die hatten ein Verbot für den Anbau von Schlafmohn verhängt, das seit April 2022 in Kraft ist und wirkt. Nach Angaben der für Drogen- und Verbrechensbekämpfung zuständigen UN-Abteilung UNODC ging die hergestellte Menge um 95 Prozent von rund 6200 auf 333 Tonnen zurück. Aus Schlafmohn wird Opium gewonnen, die Basis für Heroin und Morphium. Ermittler und Suchtberater befürchten nun, dass Fentanyl zur Ersatzdroge wird und sich Kriminelle schnell darauf einstellen.
Blienert hält es jedenfalls für möglich, „dass Heroin-Konsumierende vermehrt auf preiswerteres Fentanyl ausweichen“. Der Sozialdemokrat erklärt das unter anderem mit der Dynamik der Drogenmärkte und dem globalen Agieren der Organisierten Kriminalität. Darum werde die Lage in Europa sehr genau beobachtet, Behörden stünden national sowie international in engem Austausch. Jürgen Stock, Generalsekretär von Interpol, forderte Ermittlungs- und Gesundheitsbehörden dazu auf, sich systematisch auf Fentanyl vorzubereiten. Das Bundesministerium für Gesundheit reagierte. Nach Blienerts Angaben sollen unter anderem entsprechende Tests in Drogenkonsumräumen angeboten werden.
Viel Zeit bleibt nicht mehr, sich vorzubereiten. Nach Erkenntnissen der europäischen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (EMCDDA) nehmen in den baltischen Staaten Todesfälle zu, bei denen die Einnahme von Opioiden einschließlich Fentanyl vermutet wird. Afghanisches Heroin braucht von der Ernte bis nach Europa ein bis zwei Jahre. Interpol-Stratege Stock prognostizierte in der „Welt am Sonntag“: „Wenn das Verbot aufrechterhalten wird, dürften sich die Auswirkungen in ein bis zwei Jahren bemerkbar machen.“
Quelle: ntv.de